Diskussionen über Apps für iPod und Co., und kein Gerät auf dem Tisch? Soll der Button rechts oder links, blau oder rot sein? Epub-Überlegungen, ohne jemals mit z. B. Sigil gearbeitet zu haben? Agenturbeauftragungen für die Pflege der Pressemitteilungen auf der eigenen Website? Marketingleute, die auf einmal von Usability sprechen, Printgestalter, die einem TIFF-Daten für die Website schicken, … Die Liste ist ausbaufähig ;(
Solche Horrorstorys bekommt man leider allzu oft zu hören. Und es sind Horrorstorys.
Jeder Verlag soll[t]e ausgebildete Techniker beschäftigen, um über entsprechende Kompetenzen im Haus zu verfügen.
So habe ich bei einer AKEP-Podiumsdiskussion auf der Buchmesse 2008 argumentiert. Damals wurde ich dafür kritisiert. Nach drei Jahren in der Verlagsbranche glaube ich weiterhin, dass diese Forderung berechtigt ist. Der Begriff Techniker ergab sich aus der Diskussion heraus — gemeint waren Mitarbeiter mit Know-how in Sachen Websites und Shops.
Durch die Buchtage-Key Note von de Gruyter-Geschäftsführer Sven Fund wurde das Thema wieder aktuell:
Wir stehen mit anderen Branchen mehr und mehr im Wettbewerb um die besten Köpfe.
Die Problematik manifestiert sich in der Kluft, die sich zwischen potenziellen, technikorientierten Mitarbeitern und der Branche auftut. Das beginnt mit einer unterschiedlichen Wahrnehmung und Interpretation des Begriffs „Technik“ und spannt sich bis zur Arbeitsweise und -organisation. Dazu kommt die Außenwahrnehmung der Branche, und damit ein Großteil der Attraktivität für gut ausgebildete und erfahrene „Techniker“. Mir sind auch keine branchenaffinen Studiengänge oder Ausbildungen bekannt, die gesteigerten Wert auf die Vermittlung der notwendigen Kompetenzen legen.
Geringe Attraktivität
Für branchenfremde Berufseinsteiger und -erfahrene sind andere Branchen attraktiver. Das liegt nicht unbedingt an der Höhe der Vergütung. Schon bei der Ausbildungs- und Studienwahl stellen andere Branchen die Weichen für sich. So platt es klingen mag, modern, jung und dynamisch kommen die buchspezifischen Angebote nicht daher. Für eine junge Informatikerin führt der Weg quasi natürlich zu Software- oder Beratungshäusern, auch weil sie von diesen Unternehmen z. B. bei Jobmessen wie im Rahmen der CeBIT oder lokalen Veranstaltungen hofiert wird.
Auch andere Parameter werden bereits während des Studiums gesetzt. Vorlesungsskripte gibt es als PDF aus dem webbasierten Kurssystem, Hausarbeiten bekommen die Professoren per E-Mail. In Praktika werden Webinterfaces für Datenbanken konzipiert, umgesetzt werden diese Konzepte mit modernen, State-of-the-art-Werkzeugen. Kurz: Sowohl die Informationsvermittlung als auch die Informationsaufbereitung werden vor allem elektronisch erlebt.
Da tut sich die Buchbranche, die auf totes Holz setzt, schwer gegen Agenturen und Softwarehäuser, die spannende Projekte, modernes Arbeitsgerät und elektronische Produkte anzubieten haben — von der Chance, mit Gleichgesinnten zu arbeiten und am Puls der Zeit zu sein, ganz abgesehen. Auch was man an elektronischen Verlagsprodukten sehen kann, wird die meisten Absolventen nicht vom Hocker hauen. Spätestens beim genaueren Blick auf Software und Websites wird einem nämlich klar, dass zwar Verlag X draufsteht, aber Softwareschmiede Y drin ist.
Die Buchbranche ist nicht gerade dafür bekannt, vorne mit dabei zu sein — da muss man es den Absolventen verzeihen, wenn sie nicht nach Buchjobs lechzen. So mag es zwar vorkommen, dass sich vereinzelt Quereinsteiger (wie ich und meine Kollegen) in Buchverlagen wiederfinden, doch das reicht nicht aus. Und dann stellt sich die Frage, wie lange sie dort bleiben.
Meine Generation, und das erlebe und höre (und fühle) ich immer wieder, geht nicht davon aus, zehn Jahre — oder gar das ganze Berufsleben — bei einem Unternehmen zu bleiben. Zumal das heute auch augenscheinlich sehr schwer geworden ist. Einer Branche, die sich Tradition auf die Fahnen geschrieben hat, verschafft das Minuspunkte. Aufstiegschancen, so muss man meinen, sind also selten und eröffnen sich erst nach langen Jahren. Tradition ist auch nicht unbedingt ein Schlagwort, mit dem man einen Flasher oder Online-Marketer hinterm Ofen hervorlockt.
Damit zur Sprache in Stellenanzeigen. Seit vielen Jahren schon werden Stellenanzeigen in Jobbörsen im Internet veröffentlich, und die Stellensuche erfolgt nach Stichworten. Unternehmen müssen sich klarmachen, dass sie ihre Stellenanzeigen mit passenden Stichworten spicken müssen, nach denen künftige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter suchen. Ich wette, dass weitaus öfter nach Website statt Internet-Präsenz gesucht wird. Und das diejenigen, die Stellenanzeigen mit letzterer Formulierung lesen, sich dann eher abgeschreckt fühlen. Die Begriffswahl impliziert ein Mindset, mit dem sich der Bewerber nicht identifizieren kann. Ein ähnliches Begriffspaar ist Webshop und Verkaufsplattform im Internet.
Divergierendes Verständnis
Hinter solchen Wortungetümen steht mangelndes Verständnis der und für die Tätigkeit. Wäre man wirklich nah am Thema, wüsste man, dass man 2010 einfach nicht mehr von Internet-Präsenzen oder Webseiten (oder noch schlimmer: Homepages) spricht. Bezeichnend dafür ist, welchen Namen viele Verlage den Sidebars ihrer Websites geben: Marginalspalten. Und das, obwohl in der Fachpresse, auf Websites zum Thema, auf Messen und Kongressen und in Dokumentationen von WCMS ausschließlich von Sidebars gesprochen wird. Ja, in Büchern heißen die Spalten links und rechts des Inhalts so. Erstens reden wir aber nicht von Büchern, und zweitens haben Marginalspalten und Sidebars völlig verschiedene Funktionen.
Die Entwicklungen in allen Online-Themen sind sehr technikgetrieben. Die Grenze zwischen grundlegender Technik und z. B. der Fachkompetenz Online-Werbung ist sicher fließend. Aber ohne zu wissen, wie man Werbung in Websites integriert, wird man kaum erfolgreich vermarkten können.
Digitale Arbeitsweise
Die zwangsläufige Unterscheidung zwischen Buch und Website gilt auch für die Herangehensweise an Konzeption und Umsetzung. Ein Buch steht am Ende des Prozesses als Produkt im Laden und kann nicht mehr verändert werden. Websites und Software aber sind dynamisch. Ihnen gefällt die Hintergrundfarbe nicht mehr? Gut, ändern wir sie. Die Produktbeschreibung ist dröge und niemand kauft? OK, hier ist ein alternativer Text, machen wir einen A/B-Test. Diese Dynamik kann natürlich missbraucht werden. Entscheidend für den Erfolg ist daher, Kompetenz im Haus zu haben und sie mit Entscheidungsbefugnis auszustatten.
Mangelnde Kompetenzvermittlung
Betrachtet man die branchenaffinen Studiengänge oder Ausbildungen, fällt die Konzentration dreier Themen auf: Marketing, Vertrieb und Herstellung. Aber wird den Absolventen beigebracht, mit einem WYSIWYG-Editor zu arbeiten, sich in einem WCMS zurechtzufinden oder gar eine Website oder einen Shop zu planen? Wenn man immer nur davon hört und nur sporadisch mit solchen Werkzeugen arbeitet, lernt man nichts. Man übt es nicht, man sammelt keine verwertbare Erfahrung. Und das ist nur die Anwendungsseite. Technisches Projektmanagement, Webusability (oder für mobile Endgeräte), User Experience, Webanalyse, E-Commerce, Online-Marketing, all diese Themen werden höchstens gestreift — und so gefährliches Halbwissen erzeugt.
Bei allem Respekt für die Kolleginnen und Kollegen, die sich nach und nach selbst oder mit Unterstützung ihrer Arbeitgeber weitergebildet haben: ohne das Erlernte jahrelang in die Praxis umzusetzen wird man kein Experte. Allein die Weiterbildung reicht nicht aus. Verlage sollten sich dessen bewusst sein und dafür sorgen, in diesen Dingen kompetente Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu finden und dauerhaft einzusetzen, wenn sie ihre Marke, gar ihr Geschäft, ins Internet verlagern wollen bzw. müssen. Einem Lektor nebenbei redaktionelle Arbeit im WCMS aufzubrummen, ist der falsche Weg.
Was bleibt einem ohne eigene Experten also übrig, als einen externen kommen zu lassen, der für teures Geld ein paar Folien an die Wand wirft und salbungsvoll das Blaue vom Himmel erzählt. Man muss ihm vertrauen und liefert sich aus. In den meisten Fällen geht das vielleicht noch gut. Geht es dann an die Umsetzung, wer prüft die Arbeit der angeheuerten Agentur, wer fühlt ihnen auf den Zahn? Hat man ambitioniertere Ziele, zum Beispiel eine iPhone-App, wer im Haus kennt vergleichbare Angebote, wer stellt die Anforderungen der Fachabteilungen zu einem agenturtauglichen Konzept zusammen? Wer kann einschätzen, ob das vom Dienstleister vorgeschlagene Werkzeug wirklich das richtige ist, um zig Gigabyte an Daten vernünftig durchsuchbar zu machen? Wer kann einen Designvorschlag auf Usability und User Experience hin bewerten? Wer liefert ein aussagekräftiges Reporting der E-Commerce-Aktivitäten und kann daraus konkrete Maßnahmen ableiten?
Wenn ein Verlag online vermarkten und verkaufen will, braucht er qualifiziertes, entscheidungsbefugtes Personal. Verlegerische Entscheidungen werden ja auch nicht Dritten überlassen.
Bild: Simone Haupenthal, CC-BY
PS. Siehe „Das Verlagsgeschäft mit Inhalten“ von 2009, in dem das Thema Personal ebenfalls eine wichtige Rolle spielt.
Jetzt mal ehrlich. Im Prinzip ist es egal, wie der Verlag seine “Web-Präsenz” hingurkt. Ob mit oder ohne technischem Geschick, ob mit oder ohne technischem Know-How.
Die Fragen, die sich ein Verlag heute stellen muss, ist, wo bekomme ich meine Autoren her, mit wem kooperiere ich, wie erreiche ich mein potenzielles Lesepublikum (primär geht es um Käufer, nicht Leser). Sei es durch das Internet, sei es durch virale Marketing-Kampagnen und und und …
Verlage müssen sich auf ihre Stärke besinnen: nämlich die Spreu vom literarischen Weizen zu trennen. Deshalb steht ihnen bald das Wasser bis zum Hals. Nicht, weil sie ihre “Sidebars” als “Marginalspalten” betiteln, sondern weil ihnen wichtige Autoren durch die Lappen gehen und diese ihre Bücher selbst veröffentlichen, unterstützt von neuen Vertriebskanälen (u.a. amazon.de). Des Weiteren werden Verlage immer mehr zu Marketing-Maschinen, die mit viel Geld bestimmte Autoren und Bücher pushen. Das kann auf die Dauer natürlich nicht gut gehen, schon gar nicht für kleinere und mittlere Verlage mit Budgetnöten. Und dass die Buchhandelsketten ihre Listen haben und nur noch die Schnelldreher ordern, ist hinlänglich bekannt.
Zusammengefasst: Verlage sollten sich vorwiegend um die Literatur bemühen.
Das wollte ich jetzt nur los werden.
R.
Danke für Dein Feedback, Richard, das einen wichtigen Aspekt hervorhebt: Nicht alle Verlage verlegen Belletristik. Und dennoch, auch die Belletristen brauchen Online Know-how.
Meine Argumentation ist: Die Online-Abteilung eines Verlags muss heute genauso stark und „mächtig“ sein wie z. B. Vertrieb oder Marketing. Natürlich kann ein Verlagshaus nicht jede Aufgabe selbst übernehmen, aber man braucht Mitarbeiter, die in der Lage sind, Dritte zu beauftragen und zu überwachen. Und ohne Know-how im Unternehmen geht das nicht lange gut.
Gerade weil der Verkauf über Buchhandelsketten ein hartes Geschäft ist, sollten sich die Verlage verstärkt darum kümmern, eigene Vertriebskanäle aufzubauen. Das kann (und sollte) auch über das WWW geschehen. Dies kann aber nur funktionieren, wenn bei den Verlagen auch das Know-How da ist, diese Kanäle adäquat bedienen zu können. Daran mangelt es, unter anderem.
Für die Verlage ist die aktuelle Situation doppelt bedrohlich: Einerseits verpennen sie - mal wieder - eine wichtige soziale Entwicklung im Internet, andererseits verpassen sie, sich strategisch fähiges Personal zu sichern.
Richtig, richtig, ganz ähnliche Probleme kennen wir!
Man muss aber auch sehen: Die Buchbranche ist einfach eine kleine, finanzschwache Branche, die Margen sind klein, die Budgets auch, ebenso die Durchschnittsgehälter - da gegen Softwareschmieden und Medienkonzerne anzutreten ist einfach schwierig. Und “echte” Techniker im Haus kosten nunmal eine Stange Geld.
Ich finde es aber auch gar nicht nötig, da von “Technikern” zu sprechen, die benötigt werden - ein Lektor ist auch kein Autor, kann aber einen Text beurteilen. Und ein Online-Marketer z.B. ist ja nun bei weitem kein Techniker…
Da müssen Kompetenzen aufgebaut werden, um externe Dienstleister briefen und prüfen zu können und nicht zu allem Ja und Amen zu sagen oder die wichtigen Trends zu verschlafen.
Außerdem gehen bei dem Wort “Technik” bei vielen Verlagsmitarbeitern eh gleich die roten Lämpchen respektive das Äffchen mit den Schellen im Kopf an …
Ina, das kommt auf das Selbstverständnis an. „Techniker“ oder „Online-Experte“ sind in diesem Kontext synonym zu verstehen. Denn, wie ich versuchte zu zeigen, braucht auch der Online-Marketer technisches Verständnis.
Was die Gehälter angeht, ich glaube, da können wir doch ganz gut mithalten. Schau dir zum Beispiel mal die Ergebnisse der c’t-Gehaltsumfrage 2009 an. Sie ist zwar für Onliner nicht repräsentativ, aber das beste (was ich kenne), was es zu diesem Thema gibt.
mhm… die verlinkte Gehaltsumfrage zeigt ja, dass die Verlage im unteren Drittel angesiedelt sind. Und ich traue mich zu wetten, dass die Buchverlage das noch bei weitem unterbieten.
53% verdienen dort angeblich 2500 € brutto und weniger… http://www.buecherfrauen.de/index.php?seite=B%FCcherFrauen-Studie&content=&id=980
Ich stimme dir zu, Online-Experten brauchen ein gewisses technisches Know-How. Aber nur weil ich weiß, das Google Suchergebnisse nach einem mathematischen Algorithmus generiert werden und wie P2P-Netzwerke aufgebaut sind, fühle ich mich noch nicht als geek. Und wie gesagt: Ich glaube, der Begriff “techniker” verschreckt da die Buchleute eher - nur ein Bauchgefühl…
Danke für den Hinweis auf die Gehälter, Ina.
Geeks müssen sie ja auch nicht sein, sondern zum Beispiel wissen, wie ein Ad Server funktioniert, oder wie man mit einer Funnel-Analyse und den Konsequenzen daraus die Conversion Rate eines Shops erhöht.
Nochmal zum
— wir können gerne den Begriff Online-Experte benutzen.